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"Einstiegsdroge" Cannabis?!

Die Annahme hält sich, Cannabis sei eine "Einstiegsdroge" und ihr Gebrauch führe zwangsläufig dazu, dass die konsumierende Person zu "harten Drogen" wie Heroin oder Kokain greife. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass einfache Antworten der Realität nicht gerecht werden.

Cannabis kann eine Einstiegsdroge sein – aber nicht allein und nicht zwingend. Ebenso können Nikotin, Alkohol oder andere Substanzen eine solche Rolle übernehmen. Entscheidend ist das Zusammenspiel von biologischer Veranlagung, psychosozialen Faktoren, sozialem Umfeld und Verfügbarkeit: Hinter einem Substanzkonsum steckt ein komplexes bio-psycho-soziales Wechselspiel. Vor allem regelmäßiger Substanzkonsum sollte immer als Hinweis auf andere Probleme und unerfüllte Bedürfnisse ernst genommen werden. Eine Suchterkrankung entsteht, wenn Alternativen "schwieriger" erhältlich sind als die Substanz. Dazu zählen beispielsweise für Jugendliche Möglichkeiten, um Lust, Selbstwert, Bindung, Kontrolle, Belohnung, Selbstwirksamkeit, Selbst- und Fremdvertrauen jenseits von Substanzkonsum erfahren zu können.

Suchterkrankungen sind überkomplex und von verschiedenen Aspekten beeinflusst, wie das bio-psycho-soziale Modell zeigt. Einfache Antworten und Strategien bieten daher keine Lösungen.

 

Bio-psycho-soziale Mechanismen

Zunächst lohnt sich ein differenzierter Blick auf den Begriff "Einstiegsdroge" entlang des Bio-psycho-sozialen Modells.

Auf biologischer Ebene

Eine Einstiegsdroge ebnet über molekulare Mechanismen den Weg in den Konsum von weiteren Substanzen, häufig auch als "harte Drogen" bezeichnet.

  • Jede psychoaktive Substanz – einschließlich verhaltensbasierter Suchtmittel – stößt in den menschliche Belohnungssystemen im Gehirn Veränderungen an, die den Konsum weiterer – intensiverer – Suchtmittel wahrscheinlicher machen können.
  • Mechanismen reichen bis in die Aktivierung von Gentranskriptoren. Damit ist die Steuerung der Genaktivität gemeint, bildlich kann man sich das so vorstellen, dass bestimmte Abschnitte, Aktivitäten und Funktionen von Genen "an-" und "ausgeschaltet" sein können.
  • Cannabis beeinflusst das körpereigene Endocannabinoid-System. Gerade bei Jugendlichen, d.h. bei frühem Konsumbeginn, kann dies die Sensibilität für Opioidwirkungen steigern. Neben dem Endocannabinoid- gibt es auch ein körpereigenes Opioidsystem – Endorphine sind körpereigene Opioide mit einer schmerzlindernden Wirkung, die ein Gefühl von Wohlbefinden und Entspannung hervorrufen. An die Opioidrezeptoren im Körper binden sich auch von außen zugeführte Opioide wie Morphium oder Heroin.

Bei sozioökonomisch benachteiligten Gruppen und leichter Verfügbarkeit von Opioiden ist das Risiko stärker, wie eine Studie zeigte. Jedoch wurde auch hier deutlich: je früher und je chronischer der Cannabiskonsum stattfand, desto höher war die Wahrscheinlichkeit für einen missbräuchlichen Opioidkonsum (Reboussin BA, Rabinowitz JA, Thrul J, Maher B, Green KM, Ialongo NS. Trajectories of cannabis use and risk for opioid misuse in a young adult urban cohort. Drug Alcohol Depend. 2020 Oct 1;215:108182).

Auf psychologischer Ebene

Eine Einstiegsdroge ist dasjenige Suchtmittel, mit dem das Individuum lernt, unangenehme Zustände zu reduzieren und angenehme Zustände häufiger werden zu lassen:

  • Suchtmittel als Möglichkeit zur Emotionsregulation.
  • Suchtmittel als Möglichkeit einer – subjektiv empfundenen – Bedürfnisbefriedigung, welche aber tatsächlich nicht erfolgt.
  • Wenn man erst einmal gelernt hat, dass eine Substanz hilft, liegt die Idee nahe, andere Substanzen zu nutzen.
  •  Aber wo ist der Einstieg: Medikamente gegen Fieber? Zucker für das Kind? Cola für den Jugendlichen?

Auf sozialer Ebene

Eine Einstiegsdroge ist dasjenige Suchtmittel, mit dem das Individuum in eine soziale Umgebung gelangt, in der weitere Substanzen ebenfalls verfügbar und toleriert bzw. gefördert werden:

  • Verfügbarkeit: Wenn Alkohol, Nikotin und Tabak rund um die Uhr in jedem Supermarkt, jeder Tankstelle und jedem Kiosk erhältlich sind.
  • Wenn Cannabis, Benzodiazepine und Opioide in der Apotheke bzw. lizenzierten Fachgeschäften gekauft werden könnten? Wenn man zum Dealer muss, der neben Cannabis auch Kokain und Opiate verkauft?
  • Der Einstieg in den Cannabiskonsum erfolgt selten isoliert. Eltern, Geschwister und Peers prägen maßgeblich die Konsumgewohnheiten von Jugendlichen. Besonders stark wirkt der Einfluss von Geschwistern, wenn diese dasselbe Geschlecht haben und altersnah sind.
  • Neben den gesetzlichen Vorgaben bestimmen auch Normen, gesellschaftliche Toleranz, Vorbilder, Verfügbarkeit, Werbung sowie mediale Präsenz den Substanzkonsum.
  • In der Regel starten junge Menschen ihren ersten Probierkonsum nicht mit Cannabis, sondern mit Nikotin als erstem Suchtmittel und Alkohol als erstem Rauschmittel.

 

Übergang zur Abhängigkeit: Risikofaktoren

Studien wie die von Lopez-Quintero et al. (2011) zeigen, dass folgende Faktoren den stärksten Einfluss auf die Entwicklung einer Abhängigkeit haben:

  • junges Alter beim ersten Konsum
  • geringes Bildungsniveau,
  • niedriges Einkommen,
  • psychische Störungen inklusive anderer Suchterkrankungen.

 

Auch die Abhängigkeitspotenziale verschiedener Substanzen haben einen Einfluss (Connor JP, Stjepanović D, Le Foll B, Hoch E, Budney AJ, Hall WD. Cannabis use and cannabis use disorder. Nat Rev Dis Primers. 2021 Feb 25;7(1):16):

  • Cannabis: ca. 9%, bei täglichem Konsum bis zu 30–40%
  • Tabak: 32%
  • Heroin: 23%
  • Kokain: 17%
  • Alkohol: 15%

Vor allem Jugendliche greifen überwiegend zum Joint:

  • 90% der Konsumierenden rauchen Cannabis.
  • 66% mischen es mit Tabak.

Damit setzen sich Konsumierende sowohl den Risiken des Cannabisrauchs als auch denen des Tabaks aus.

Eine Cannabiskonsumstörung kann besonders dann entstehen, wenn alternative Formen der Bedürfnisbefriedigung fehlen. Sie erhöht das Risiko weiterer Abhängigkeiten, muss aber nicht zwangsläufig zum Konsum "harter Drogen" führen.

Statt vereinfachter Botschaften braucht es eine nachhaltige Präventionsstrategie:

  • Mehr Verhältnisprävention: Geringere Verfügbarkeit, weniger marktwirtschaftliche Orientierung, weniger Stress für Betroffene/Risikogruppen.
  • Mehr Unterstützung, Beratung und Behandlung für Risikogruppen.
  • Attraktive Alternativen für Jugendliche, um Lust, Selbstwert und Bindungserfahrungen sowie Risikokompetenzen jenseits von Substanzkonsum zu erleben.
  • Gesellschaftliche Rahmenbedingungen so gestalten, dass Menschen gesunde Alternativen wählen können.

 

Artikel in Ahnlehnung an den Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Frischknecht "Cannabis als Einstiegsdrogen - wissenschaftlich widerlegt?" am 2. September 2025 im Rahmen des Online-Fachtags "Cannabisgesetz – zwischen Anspruch und Realität"